Familienrat

Ein Drama in drei Akten

von Helen Endemann

 

  • 1. Akt

Klaus, 85, in seiner Küche. Großer Tisch, dahinter Herd mit Kessel, Waschbecken, Unterschrank. Links ist die Haustür, rechts eine Tür, die in die Wohnung führt. Klaus macht sich umständlich einen Tee. Will Zeitung lesen, sucht Brille. Seine Bewegungen sind die eines gebrechlichen alten Mannes. Als der Tee endlich fertig ist, setzt er sich vorsichtig auf den Stuhl und beginnt, in der Zeitung zu lesen. Er vergisst, den Herd auszumachen, das Wasser kocht weiter. Es klingelt. Klaus rührt sich nicht. Es klingelt laut und anhaltend. Klaus sieht auf, steht ächzend auf, geht zur Tür. Er sieht durch den Spion.

Klaus: „Ich kaufe nichts.“ Schickt sich an, zum Tisch zurück zu gehen. Es klingelt wieder laut und anhaltend.

Klaus: (laut) „Ich kaufe nichts!“ (leiser) „Herrgottnochmal, verdammtes Pack, Gesindel, verdammtes…“

Es wird laut an die Tür geklopft, man hört dumpfes Rufen. Klaus öffnet die Tür und starrt den Besucher an.

Sven: „Nicht die Tür zumachen, bitte! Machen Sie nicht die Tür zu. Ich stelle auch nicht den Fuß in die Tür, sehen Sie?“ Sven hat eine Justin-Biber-Frisur. Seine Hose sitzt tief auf der Hüfte und der Hosenboden endet kurz über den Knien.

Klaus: „Was willst du? Musst du nicht in die Schule?“

Sven: „Sven Roller, mein Name. Ich bin, ich pflege Ihre Frau Inge. Ich bin ihr Pfleger.“

Klaus: „Inge? Ex-Frau. Wir sind geschieden.“

Sven: „Darf ich vielleicht reinkommen?

Klaus: „Nein!“ In dem Moment pfeift der Kessel laut, beide erschrecken sich. Klaus macht ein paar Schritte rückwärts, gerät ins Straucheln und hält sich an der Tischkante fest.

Klaus: „Was ist denn? Ich habe doch…?“ Steht unschlüssig da.

Sven: „Nur der Wasserkessel, das haben wir gleich.“ Geht an Klaus vorbei, schaltet den Herd aus und nimmt den Kessel von der Kochplatte.

Sven: „Was wollten Sie kochen, Herr Adam? Tee?“

Klaus: „Ja, Tee, richtig…“ Sven nimmt zwei Teebeutel aus der Packung im Küchenschrank, greift zwei Tassen und macht sich und Klaus einen Tee. Damit setzt er sich an den Küchentisch. Klaus sinkt unschlüssig in seinen Stuhl. Beide rühren in ihren Tassen.

Sven: „Inge ist dement. Sie braucht rund um die Uhr jemanden, der sich um sie kümmert.“

Klaus: „Inge.“

Sven: „Ich pflege sie jetzt seit einem Jahr. Freiwilliges Soziales Jahr. Aber im September fange ich an zu studieren. Sie braucht einen neuen Pfleger. Oder ein Heim. Jemand muss sich kümmern.“

Klaus: „Warum ich? Wir sind geschieden. Darum lässt man sich doch scheiden, dass man sich nicht kümmern muss!“

Sven: „Inge hat sonst niemanden.“

Klaus: „Was ist mit den Kindern?“

Sven: „Die sind noch in der Verdrängungsphase. Ralf hat bis vor kurzem versucht, Inge seine Wäsche zum Waschen zu bringen.“

Klaus: „Fauler Hund!“

Sven: „Es sieht so aus, als müssten Sie als Familienoberhaupt die Sache in die Hand nehmen.“

Klaus: „Geschiedenes Familienoberhaupt.“

Sven: „Patchwork-Familienoberhaupt.“

Klaus: „Patchwork-Quätschwork. Und nun mach, dass du in die Schule kommst!“ Weist ihm die Tür.

Sven geht ab. Vorhang.

  • 2. Akt

Ein Stuhl, ein Notenständer, ein Telefon. Tanja, 49, sitzt auf dem Stuhl. Ihre achtjährige Tochter Leonie übt Geige. 

Tanja: „Und gleich nochmal. Willst deine alten Eltern doch nicht blamieren, am Samstag.“

Leonie rollt mit den Augen.  Hebt den Bogen, um zu spielen. Das Telefon klingelt.

Tanja: „Papa! Ist alles in Ordnung?“

„Gut.“ (erleichtert)

„Was für ein Schulschwänzer?“

„Mutters Pfleger? Ja, der hat sowas gesagt. Aber Mutti geht ´s doch gut.“

„Nicht?“

„Rund um die Uhr? Oh.“

„Samstag passt ganz schlecht. Leonie hat ein Vorspiel!“ Zwinkert ihr zu. Leonie gibt ihr einen genervten Blick.

„Ja, Sonntag dann. Aber die andern kommen auch?“

„Tschüss, Papa, bis Sonntag.“ Legt auf. Licht geht aus.

 

Licht geht bei Ralf, 52, an. Er sitzt vorm PC. Das Telefon klingelt.

Ralf: „Papa! Alles in Ordnung?“

„Hm.“ Tippt auf Tastatur.

„Hm“.

„Die andern kommen aber auch?“

„Hm.“

„Kann ich meine Wäsche bei dir waschen?“

„Schon gut.“

„Bis Sonntag.“ Legt auf. Tippt weiter. Licht geht aus.

 

Eva-Lotte, 43, telefoniert auf Iphone, geht auf und ab.

Eva-Lotte: „Supi, Elli, ich freue mich schon!

„Ja, Bernhard kommt auch mit. Wir bringen Prosecco und Aperol mit. Da könnte ich drin baden.“ (kichert) „Oh, Elli, ich hab einen Anklopfer. Ich mach Schluss, ja? Küsschen!“

„Papa! Alles in Ordnung?“ Licht geht aus. Vorhang.

 

  • 3. Akt

In Klaus‘ Küche. Ralf sitzt am Tisch. Leonie sitzt abseits und spielt mit IPhone. Sven kocht Tee für alle. Tanja tritt von rechts ein. Inge sitzt im Rollstuhl am Kopfende. Sie bewegt den Kopf hin und her und guckt abwesend.

Tanja: „Papa steht gerade von seinem Mittagsschläfchen auf. Er wird gleich da sein.“ Sie tätschelt Inge und setzt sich dann an den Tisch.

Ralf: „Typisch für Eva-Lotte und Bernhard, sich zu verspäten.“

Tanja: „Kommt Bernhard denn auch mit?“

Ralf: „Hat sie gesagt.“

Tanja: „Vielleicht will er uns beraten, wie Papas Vermögen angelegt werden soll.“

Klaus: (kommt von rechts in die Küche) „Träumst du? Welches Vermögen? Das, was die Lehmann Brüder veruntreut haben oder das, was wir den Griechen in den Rachen geworfen haben? Der Zerfall der Währungsunion hat sogar den Notgroschen, den ich in Yen angelegt hatte, dahingerafft. Verstehe immer noch nicht, warum. Jedenfalls: Es gibt kein Vermögen. Ich bin für jedes Jahr froh, das ich das Haus behalten kann.“

„Inge.“ Klaus nickt ihr einen Gruß zu, den sie nicht wahrnimmt. Er setzt sich. Es klingelt. Keiner macht Anstalten zu öffnen.

Sven: „Das wird Eva-Lotte sein.“ Geht, ihr zu öffnen.

Eva-L.: „Hi Sven, mein Lieber!“ Gibt ihm rechts und links Küsschen. Sie hat einen Starbucks-Becher in der Hand. Hinter ihr kommt Bernhard, der Svens Versuch, ihn zu küssen, abwehrt.

Eva-Lotte begrüßt alle mit Küsschen, allgemeine Begrüßung und Chaos, bis schließlich alle um den Tisch sitzen. Eva-Lotte sitzt neben Inge. Für Sven bleibt kein Stuhl übrig. 

Sven: „Gibt es noch irgendwo einen Stuhl?“ Klaus ignoriert die Frage.

Eva-L.: „Bernhard-Schatz, würdest du mal einen Stuhl aus dem Wohnzimmer holen?“

Bernhard: „Ich ausgerechnet …?“

Sven: „Lass mal Bernhard-Schatz, ich hole ihn mir selbst.“

Inge: „Wer ist der entzückende junge Mann?“

Betretenes Schweigen.

Klaus: „Nur so ein Schulschwänzer. Mach dir keine Gedanken.“

Sven kehrt mit dem Stuhl zurück und setzt sich. Niemand sagt etwas.

Sven: „Also ihr wisst wohl alle, warum wir hier sitzen. Inge kommt nicht mehr allein zurecht, und ich beende meine Pflegestelle bei ihr in zwei Wochen. Sie ist jetzt auf euch angewiesen. Sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert.“

Ralf: „Und was genau müssen wir uns darunter vorstellen?

Sven: „Essen machen, Füttern, Körperpflege, Windeln wechseln, Zähne putzen. Sie braucht rund um die Uhr Betreuung. Falls sie stürzt oder einfach aus dem Haus geht.“

Ralf: „Haben Sie das bisher alles gemacht?“

Sven: „Nein. Morgens kommt der Pflegedienst und macht sie fertig. Ich komme gegen zehn und bleibe bis abends. Dann kommt der Pflegedienst und macht sie bettfertig. Nachts ist sie allein. Aber das wird so nicht bleiben können. Ihr Zustand hat sich stark verschlechtert.“

Inge: „Klaus, ja hast du denn keine Tassen für deine Gäste? Das Kind muss doch nicht aus einem Pappbecher trinken.“ Nimmt den Starbucks-Becher von Eva-Lotte und schüttet seinen Inhalt in ihre Teetasse.

Eva-Lotte: „Mutti, was machst du denn? Der ganze schöne Schaum!“

Tanja: „Also ich hab ja mit Leonie schon alle Hände voll zu tun. Thomas ist dauernd unterwegs. Ich kann maximal dreimal in der Woche bei Mutter reinschauen, bisschen einkaufen, etwas Ordnung machen.“

Ralf: „Also ich bin berufstätig.“

Bernhard: „Im homeoffice. Warum ziehst du nicht zu Inge? Du könntest arbeiten und dich nebenbei um sie kümmern.“

Ralf: „Spinnst du? Warum nehmt ihr sie nicht zu euch? Tagsüber könntet ihr einen Pfleger bezahlen und nachts seid ihr für Mutter da.“

Eva-Lotte: „Also das stellst du dir ein bisschen einfach vor. Unsere Wohnung ist gar nicht barrierefrei. Ist schließlich Altbau und außerdem viel zu klein. Was kostet überhaupt so ein Pfleger?“

Bernhard: „Schätze so 10.000 Neue D-Mark.“

Eva-Lotte: „Im Monat?“

Ralf: „Täglich wohl nicht. Noch nicht.“

Eva-Lotte: „So viel verdiene ich als Anwältin nicht!“

Klaus: „Die Leute brauchen auch keine Anwälte. Sie brauchen Menschen, die für sie einkaufen, die das Rollstuhl-Taxi fahren, die ihnen den Arsch abwischen. (wird laut, steigert sich in Rage) Arschabwischer brauchen wir, keine Advokaten!“

Inge: „Dein Tourette-Syndrom wird schlimmer, Klaus.“

Alle wenden sich aufgeregt zu Inge.

Tanja: „Mutti, erkennst du mich? Ich bin die Tanja. Wir sind alle hier, Mutti, deine Kinder. Ralf und Eva-Lotte.“

Inge: „Ihr seid nicht meine Kinder. Meine Kinder haben das Leben noch vor sich. Ihr seid alte Leute.“

Betretenes Schweigen.

Tanja: „Also ich kann sie auf keinen Fall nehmen.“

Eva-Lotte: „Ich auch nicht.“

Bernhard: „Bleibt nur ein Heim.“

Alle rücken etwas von ihm ab und sehen ihn an, als hätte er einen fahren lassen.

Bernhard: „Was denn? Keiner von euch will sie zu sich nehmen oder bei ihr wohnen. Was bleibt denn dann?“

Ralf: „Hat Mutter denn Geld für ein Heim?“

Klaus: „Sie hat ein paar Hundert Neue D-Mark Rente. Hat ja nicht gearbeitet.“

Tanja: „Sie hat nicht außer Haus gearbeitet, meinst du. Sie hat sehr wohl für dich gekocht, deine Hemden gebügelt, deine Kinder großgezogen.“

Klaus: „Dafür habe ich ja auch jahrelang Unterhalt gezahlt.“

Eva-Lotte: „Vielleicht könntest du ihr etwas für das Heim dazuzahlen?“

Ralf: „Schwesterchen, unser Vater hat kein Geld in der Größenordnung, die man für einen Heimplatz braucht.“

Eva-Lotte: „Aber du hattest doch Aktien und eine Lebensversicherung und Anleihen…“

Ralf: „Hast du mal Zeitung gelesen in den letzten zwanzig Jahren?“

Tanja: „Hört auf zu streiten! Also Papa hat kein Geld. Aber er hat ein Haus. Und er kann noch alleine leben. Er kann Mutti nehmen.“

Klaus: „Das kommt überhaupt nicht in Frage.“

Ralf: „O.k., dann ist das beschlossene Sache.“

Klaus: „Mein Geld reicht kaum für mich selbst. Ich kann keinen Pfleger für eure Mutter bezahlen. Und ich kann sie nicht waschen. Ich kann das nicht.“

Eva-Lotte: „Dann müssen wir zusammenlegen für einen Pfleger. Jeder ein Drittel.“

Klaus: „Ich bin geschieden.“

Tanja: „Wir müssen noch das Haus abbezahlen und dann kommen die Ausbildungskosten für Leonie… Und Thomas will einen 5er BMW…“

Bernhard: „Und was wird aus unserer Weltreise? Mit dem Mountainbike um die Welt? Unser Traum, Hase?“

Ralf: „Ja, Hase?“

Eva-Lotte: (zu Ralf) „Halt die Klappe.“ (zu Bernhard) „Hasi, es hat sich ausgeträumt.“

Alle schweigen. Inge summt vor sich hin. Sven sammelt die Teetassen ein und stellt sie in die Spüle. Dann geht er nach rechts ab.

Tanja: „Wie wird das, wenn wir mal alt sind? Wer wird für uns sorgen?“

Ralf: „Na ja, das ist ein Generationenvertrag. Wir haben schließlich Leonie.“

Bernhard: „Ja, wir haben Leonie.“

Eva-Lotte: „Leonie, mein Liebes.“

Alle stehen auf und wackeln gebrechlich auf Leonie zu, die zurückweicht. Eva-Lotte springt ihr Huckepack auf den Rücken. Die anderen klettern an ihr hoch. Leonie geht zu Boden, wo sie kniet. Alle klettern auf sie, bis sie eine „Alterspyramide“ darstellen. Sven reicht Leonie eine Mundharmonika.

 

Sven: „Halt deine liebende Verwandtschaft bei Laune“. Geht ab.

 

 

Leonie beginnt das Thema aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ zu spielen. Vorhang.

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Märchen vom Prinzen mit den zwei linken Händen

von Helen Endemann

 

Es war einmal vor langer Zeit ein junger Prinz. Er war ein sehr hübscher Knabe mit zarter Haut, leuchtend blauen Augen, roten Backen und einem widerspenstigen Haarschopf. Seine Mutter liebte ihn von ganzem Herzen. Sie drückte ihn jeden Tag an ihre Brust und seufzte: „Ei, du mein Junge, du bist das Glück meines Lebens.“ Der Vater des Prinzen liebte ihn ebenfalls sehr. Wenn der Prinz schlafen gehen sollte, warf der Vater ihn auf seine Schultern und galoppierte mit ihm ins Kinderzimmer. Dort las er ihm Geschichten von tapferen Rittern vor, die gegen scheußliche Ungeheuer kämpften. Wenn der kleine Prinz eingeschlafen war, standen Vater und Mutter Hand in Hand vor seinem Bett und sprachen: „Was haben wir ihn von Herzen lieb!“ 

Der Prinz wurde zusammen mit den anderen Prinzen und Prinzessinnen im Land erzogen. Jeden Morgen brachte sein Vater ihn zu weisen und gütigen Feen, die mit den Prinzen und Prinzessinnen spielten. Die Prinzen hörten dort Geschichten von Dinosauriern, die größer als ein Haus waren und schneller als ein Luchs. Sie hörten von wilden Piraten, die vor nichts Angst hatten. Sie lernten Indianer kennen, die auf ihren Wildpferden über die Prärie galoppierten. Und sie übten sich als diese Helden. Sie malten sich die Gesichter an, schlichen durch Wälder, kämpften mit Drachen und alsbald mit jedem, der es etwa wagte, eine der holden und überaus zarten Prinzessinnen zu bedrängen. Die gütigen Feen aber sahen diese Übungen mit Wohlwollen, denn sie wussten, dass sie zur Ausbildung eines jeden Prinzen gehörten.

So vergingen drei Jahre, in denen die Feen des Tags die Ausbildung des Prinzen überwachten und die Eltern des Nachts ihren Prinzen umsorgten. Da kam eines Tages eine fremde Fee zu den gütigen Feen. Sie betrachtete das Spiel der Prinzessinnen und der Prinzen durch zierliche kleine Gläser, die sie sich über ihre krumme Nase vor die Augen hielt. Ihre Augen blickten streng. Die weisen Feen aber standen traurig am Rand und raunten miteinander, denn sie kannten die fremde Fee und wussten, was ihr Besuch bedeutete. Alsbald deutete die fremde Fee sodann mit ihren knochigen langen Fingern auf einen Prinzen und eine Prinzessin nach der anderen, bis sie sieben Kinder ausgesondert hatte. Dabei murmelte sie: „Dibbe, dibbe daus, sieben such ich aus!“ Diese Sieben mussten das Spiel mit den anderen verlassen und zur fremden Fee kommen.

„Nun denn“, sprach die Fee, „bevor der Mond zum siebten Male sein Gesicht verhüllt, müsst ihr diesem Ort Lebewohl sagen. Dann dürft ihr zur Schule kommen.“

 

Die ausgewählten Prinzen und Prinzessinnen sahen sich verwundert an und als sie wieder zu der fremden Fee blickten, war diese schon verschwunden. Die Prinzen und Prinzessinnen zuckten mit den Schultern und dachten bei sich: „Ach bis dahin ist‘ s noch lang!“, und fuhren fort, mit ihren Freunden zu spielen. Aber die Eltern der Sieben, denen die weisen Feen die Nachricht sogleich erzählten, huben an, Vorbereitungen zu treffen. Sie kauften Ranzen aus bunten, edlen Stoffen, in die sie Hefte aus gebleichtem, weißem Papier packten, dazu Federmäppchen, bestückt mit Stiften in allen Farben des Regenbogens, und Frühstücksdosen mit Bildern von Dinosauriern und Einhörnern. Sie kauften große spitze Tüten aus festem Papier, die mit den allerliebsten Bildern und Mustern geschmückt waren. In diese Tüten füllten sie allerhand Süßwaren und Naschzeug. Auch das eine oder andere Spielzeug durfte sich hinzugesellen. 

 

Die Prinzen und Prinzessinnen sahen diesen Vorbereitungen mit großen Augen zu und sagten sich: „Ei, die Schule muss etwas Feines sein, wenn es solche herrlichen Geschenke und solches Rüstzeug dafür gibt.“ Und sie freuten sich sehr auf die Schule.

Schließlich kam der Tag heran, von dem die fremde Fee gesprochen hatte. Eltern und Prinzen zogen sich ihre besten Gewänder an. Die Prinzen setzten die neuen Schultaschen auf den Rücken und machten sich auf den Weg zur Schule. Dort wurden die jungen Prinzen bereits von den zwölf Schulfeen erwartet, die ihre Lehrerinnen sein würden. Der König hielt eine Ansprache, ältere Prinzessinnen und Prinzen, die schon ein oder mehr Jahre zur Schule gingen, trugen ein Lied vor. Dann trat die fremde Fee vor, die den Prinzen vor sieben Monden ausgewählt hatte. Die Menge wurde still, da wagte keins mehr, einen Mucks zu tun. Die Fee setzte wieder die kleinen, zierlichen Gläser auf ihre lange krumme Nase und streckte abermals den langen knochigen Finger aus. Sie murmelte: „Dibbe, dibbe daus, 30 such ich aus.“ Die dreißig Prinzen und Prinzessinnen aber wies sie an, mit einer der zwölf Feen mitzugehen, die ihre Schülerschar zum Klassenraum führte. Und so ging es immer wieder, bis der knochige Finger endlich auch auf den Prinzen zeigte. Er kam zu einer Fee mit einem schwarzen Spitzhut. Ehe er noch in der Menge der Eltern den seinen einen kurzen Blick zum Lebewohl zuwerfen konnte, leitete die Fee ihre neue Klasse nach draußen. Die Eltern sahen ihrem Prinzen nach und seufzten: „Ach, was haben wir ihn von Herzen lieb“.

 

Der Prinz aber ging von nun an jeden Morgen in der Frühe zur Schule und gab sich große Mühe, es der Fee mit dem schwarzen Spitzhut, die Isolde genannt wurde, recht zu machen. Isolde malte mit ihren feinen langen Fingern Striche, Kreise und gar wunderliche Formen an die Schiefertafel, die mit den Tagen und Wochen unter den verständigen Blicken der Prinzen und Prinzessinnen zu Buchstaben, Wörter und Sätzen wurden, die diese fleißig und mit heißen Bäckchen in ihre reinlichen Hefte nachmalten. Aus manchen der Striche und Formen wurden gar Zahlen, bald immer größere, die zueinander fanden und sich trennten und die Schüler lernten, sie hernach immer wieder nachzuzählen, damit keins verloren ginge. Und immer wieder hieß es von Isolde: „Und nun wird noch hübsch gemalt!“ Und die Prinzessinnen holten mit freudigen Gesichtern ihre Federmäppchen hervor und schon begannen Rosen an den Hefträndern zu ranken, Pferde entstanden unter begabten Händchen, Prinzessinnen, Rehe und was der schönen Bilder mehr war. Der Prinz sah nach rechts und links und sah auf sein Blatt, das immer nur weiß und weißer leuchten wollte, denn das Malen war ihm nicht in die Wiege gelegt worden.

 

Manchmal hieß Isolde die Klasse auch basteln. Dann wurden feine Garne gesponnen, Muster ausgeschnitten, beklebt und immer wieder bemalt. Der Prinz betrachtete die flinken Hände all überall und sein Blick fiel auf die eigenen Hände, von denen auf einmal eine jede eine Linke zu sein vorgab. Seine Füße dagegen wurden immer mächtiger. Sie zappelten und scharrten und riefen unter der Bank: „Lass uns laufen, lass uns stürmen, oh lass uns aus dieser Stube türmen!“ Und es kostete den Prinzen alle Macht, ihrem Ruf nicht zu folgen. Er hielt sich mit den Händen an der Bank fest und sein Stuhl wollte gar ein wilder Rappe werden und ihn abwerfen, so kippelte er hin und her.

Die Fee Isolde sah dies mit großem Missfallen. Sie sprach ein ums andere Mal: „Willst du nicht stille sitzen, du Zappelhans!“ Doch der Prinz, so sehr er sich zwingen wollte, konnte doch nicht gegen das an, was ihn rief und an ihm zog und rüttelte. Mit größter Anstrengung hielt er aus bis zu den Pausen, wo er mit den anderen Prinzen über den Pausenhof jagte, in die Wiesen, und auf die Bäume kletterte. Da waren endlich wieder die Indianer, Piraten und Dinosaurier und kämpften und tollten, dass es eine Freude war.

Doch, ach! Keine Freude war´s wenn er dreckig und mit zerrissenem Gewand wieder vor der Isolde erschien, denn die Glocke rief allzu bald zur nächsten Stunde. Isolde schalt: „Was bist du für ein schändlicher Schlammhans!“ Und sie schrieb ellenlange Briefe an die Eltern des Prinzen mit bitteren Klagen über sein Betragen.

 

Zuhause die Eltern schüttelten die Köpfe über den Prinzen. Und abends, wenn er schlief, sagten sie ein übers andere Mal: „Ach, was macht er´s uns so schwer!“

Eines Abends aber hörte der Prinz, was seine Eltern da sagten. Da wurde ihm das Herz schwer und ward ganz verzweifelt. Er senkte den Kopf zu Boden und einige Tränen liefen ihm über sein nicht ganz reinliches Gesicht. Als er den Kopf wieder hob, stand vor ihm eine gar wunderliche Gestalt. Sie war in prächtige Gewänder gehüllt, wie die Feen sie trugen, und sie hatte auch einen spitzen Feenhut auf dem Kopf. Aber die Größe und die Statur waren viel kräftiger und das Gesicht schließlich war das einen Mannes. 

„Was bist du?“, fragte der Prinz.

„Ich bin eine Mann-Fee“, antwortete die Gestalt.

„Eine was?“

„Eine Mann-Fee, wenn ich dir´ s doch sage.“

„Aber ich dachte, es gibt nur Frau-Feen!“, wunderte sich der Prinz. „Überhaupt, dachte ich, es gibt keine Männer außer dem Vater und dem König. Und vielleicht einige Väter mehr.“

„Du musst noch viel lernen“, sagte die Mann-Fee.

„Wie heißest du?“, fragte der Prinz.

„Ich heiße Rufus. Und nun sag mir, mein kleiner Prinz, warum du so traurig dreinschaust.“

Der Prinz schüttete dem wundersamen Mann sein Herz aus.

Bei dieser Beichte schüttelte der murmelnd den Kopf und fragte schließlich:

„Was wünschest du dir also?“

Da wurde der Prinz nachdenklich. Schließlich sprach er: „Dass ich in der Schule alles richtig mache und Isolde mich lieb hat.“

Ohne ein weiteres Wort verschwand die Mann-Fee Rufus. Der Prinz sprach sein Nachtgebet und legte sich schlafen.

 

Am nächsten Morgen aber, als der Prinz zur Schule gehen wollte, war das ganze Schulhaus und der Pausenhof, die Turnhalle und das Lehrerzimmer bis übers Dach mit einer dichten Dornenhecke zugewachsen. Andere Prinzen, die schon früher angekommen waren, machten sich bereits daran, mit Schwertern auf die Hecke einzudreschen, die aber nur wenig weichen wollte. Der Prinz krempelte die bestickten Ärmel hoch und ging gleichfalls die Hecke an. Auch einige beherzte Prinzessinnen holten ihre Handarbeitsscheren aus den Federmäppchen und begannen, der Hecke zuzusetzen. Derweil standen die Feen daneben und stimmten ein großes Wehklagen darüber an, was mit ihrer schönen Schule geschehen war. Als die Sonne schon hoch im Mittag stand, hatten die Prinzen und Prinzessinnen die Hecke schließlich niedergekämpft. Die Feen schritten über die Dornen und das Gestrüpp und waren froh, dass sie ihre Schule wieder betreten konnten. Für den Unterricht blieben nur noch zwei kurze Stunden, dann läutete schon die Glocke den Schulschluss ein.

Als der Prinz mit zerrissenen Kleidern nach Hause kam, schlug die Mutter die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Weh, was wird die Isolde dazu gesagt haben!“

„Nichts, liebe Mutter, nichts Schlimmes“, beruhigte der Prinz sie lachend. „Gelobt hat sie mich, wie ich so tapfer gegen die Dornenhecke gekämpft habe.“ Er dachte bei sich: „Heute habe ich jedenfalls alles richtig gemacht!“

 

Als der Prinz am folgenden Morgen bei der Schule ankam, war diese von einem großen See umgeben und stand unerreichbar auf einer Insel. Die Feen standen am Ufer und klagten. Da rief der Prinz: „Geschwind herbei, ihr Burschen. Lasst uns Bäume schlagen und eine Brücke bauen.“ Und die Prinzen und einige entschlossene Prinzessinnen machten sich daran, Bäume zu fällen und zurecht zu sägen. Die übrigen Prinzessinnen sponnen Garn, mit dem sie die Stämme wie ein langes Floß zusammenbanden. Das ging so lange, bis die Stämme vom Ufer bis zur Schule reichten. Darauf geleiteten die Prinzen die Feen trockenen Fußes über den See.

Als der Prinz aber am nächsten Morgen zur Schule gehen wollte, stand schon eine große Menge Schüler um die Schule herum, aber niemand wagte sich über den Schulhof zum Schulhaus. 

„Was steht ihr hier herum?“, fragte der Prinz einen anderen Prinzen.

„Ei, schau doch aufs Dach“, antwortete der.

Da sah der Prinz, dass das ganze Dach der Schule voll mit schwarzen Vögeln war.

„Die kommen alle geflogen und picken nach deinen Augen, wenn du nur deinen Fuß auf den Schulhof setzt“, sagte der andere Prinz.

Da berieten die Prinzen sich, was zu tun wäre und schließlich schnitzen sie sich Pfeile und Bogen und stellten sich rundherum um die Schule auf. Dann rannte ein Trupp der besonders mutigen Schüler, zu der auch der Prinz gehörte, über den Schulhof. Die Vögel kamen geflogen und die Prinzen und Prinzessinnen ließen alle ihre Pfeile auf die Vögel los. Da erschreckten sich die schwarzen Vögel und flogen in einem rabenschwarzen Schwarm davon.

 

Und so ging es alle Tage. Jeden Tag gab es eine andere Aufgabe zu bestehen. Einmal war der Schulhof voll mit Ungeheuern und Drachen. Ein anderes Mal voller Pech, an dem jeder kleben blieb, der so unvorsichtig war und den Fuß auf den Boden setzte. An einem Tag gab es kein Hindernis, aber als alle Schüler und Feen im Schulhaus saßen, wuchsen auf einmal die Fenster und Türen zu. Da waren alle gefangen. Die Prinzen und Prinzessinnen halfen sich endlich, indem sie einen Gang unter der Erde gruben, durch den sie wieder ins Freie liefen. Der Prinz aber war bei allen Aufgaben und Prüfungen als erster dabei und wusste immer einen Rat. Auch ließ er es nicht an Tapferkeit fehlen. Die Zeit verging und eines Tages sagte Isolde zu ihm: „Prinz. Deine Zeit ist nun um. Du warst ein sehr, sehr guter Schüler. Ich bin stolz auf dich.“

Doch der Prinz war traurig. Als er mit gesenktem Kopf nach Hause schlich, wäre er bald gegen eine wundersame Gestalt gestoßen. Es war Rufus, die Mann-Fee, der auf einmal in seinem Weg stand.

„Aber, aber mein Prinz, was schaust du so traurig drein. Ist nicht alles so gekommen, wie du es gewünscht hast?“

„Doch, mein lieber Rufus, und ich danke dir recht herzlich dafür“, antwortete der Prinz. „Doch mich dauert es so, dass ich die Schule verlassen muss. Ich würde gerne bleiben und …“

„Und was? Sprich nur, was wünschest du?“

„Und die neuen Prinzen und Prinzessinnen unterrichten“, sagte der Prinz kleinlaut. „Aber das kann ja nicht angehen. Es gibt ja doch keine Mann-Schul-Feen.“

„Das wäre ja gelacht!“, rief die Mann-Fee. „Sie mich an. Wenn es doch mich gibt, warum soll es da an der Schule keine Mann-Fee geben?“ Und da ging der Prinz bei Rufus in die Lehre. Und als seine Lehrzeit um war, da wusste er alles, was die Schulfeen wussten. Außerdem konnte er gegen Ungeheuer kämpfen, ein Floß bauen, mit den Füßen Ball spielen und vieles mehr. Nur beim Malen und Basteln, da wollten weiter beide Hände eine Linke sein. Aber auf das Malen und das Basteln verstanden sich ja schon die Schulfeen.

Und wenn der Prinz nicht gestorben ist, so lehrt er noch heute.

 

 

 

 

Das Projekt

von Helen Endemann

 

Was Kapersky vermutlich nie kapieren würde, war, dass ich es nur gut gemeint hatte. Ich meine, jeder konnte sehen, dass er das Projekt nicht übernehmen wollte. Allein die Körpersprache! Er lag halb im Stuhl, Oberkörper nach hinten gelehnt, als wollte er den größtmöglichen Abstand zur Linde halten, die auf ihn einredete wie auf ein krankes Pferd.

„Das hat Top-Prio“, sagte sie. „1a Management-Attention.“

„Ich seh‘ das Problem nicht“, sagte Kapersky. „Dann machen sie ihre Dienstpläne halt mit Excel.“

„Mensch, jetzt betrachten Sie das mal aus der Flughöhe des Vorstands. Wir sind ein verdammtes IT-Unternehmen und unser eignes Callcenter macht seine Dienstpläne mit Lineal und Bleistift!“

„Excel“, sagte Kapersky und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich hatte Angst, dass die Stuhllehne Kaperskys Körpersprachexzess nicht standhalten würde. „Ich würd´ das Projekt machen“, hörte ich mich sagen. Ich wollte Kapersky einen Gefallen tun und dachte, dass mir etwas Management-Attention nicht schaden würde. Ich war seit zwei Jahren bei EasySoft. Vorher hatte ich ein Volontariat bei der Zeitung gemacht.

„Frau Bergmann!“ rief die Linde. „Hm, naja, also wenn Herr Kapersky… Und Sie sind ja auch … Gut, dann hätten wir das ja geklärt. Hier sind die Unterlagen, Vorstandsbeschluss und so. Ende Mai soll das laufen.“

Das Meeting löste sich auf, bevor ich herausfinden konnte, was ich nach Lindes Meinung „auch war“. Der Blick, den Kapersky mir zuwarf, war eisig.

Im Büro sah ich mir die Unterlagen an. Der Vorstand wollte im Callcenter Döbeln „EasyDispatch“, eine von unserem Konzern entwickelte Dienstplan-Software, eingeführt sehen. Das konnte so schwer nicht sein. Die Linde hatte recht, wer sollte etwas dagegen haben?

Ich machte AngryBirds an und spielte, bis ich Level 5 mit den gelben Vögeln geknackt hatte.

In der folgenden Woche saß ich im Zug nach Döbeln, Sachsen. Das Taxi spuckte mich in einem Gewerbegebiet vor einem braunen Kasten aus. Frau Marek, die Personalleiterin, begrüßte mich. Sie führte mich durch eine ganze Etage voller Tische, an denen an die 80 Frauen saßen. Sie hatten Headsets auf und murmelten. Sie sahen uns nach, während Frau Marek mich in eine Glasbox leitete, ihr Büro.

„Kaffee?“ Sie wies mit dem Kopf auf ein graues Plastikregal, auf dem ein braunes Deckchen lag, worauf eine Kaffeemaschine saß und in unregelmäßigen Abständen fauchende Geräusche machte. Das Gebräu roch, als stünde es seit dem Mauerfall auf der heißen Platte.

„Nein danke.“

Sie deutete auf einen Stuhl und ich setzte mich.

„Vielen Dank für Ihre Zeit“, begann ich. „Sie kennen den Vorstandsbeschluss. Der Vorstand möchte, dass Sie das Personal mit der EasyDispatch-Software planen, einen Urlaubsplan erstellen...“

„Urlaubsplan haben wir schon“, sagte Frau Marek.

„Oh, schön! Kann ich den mal sehen?“

„Hängt hinter Ihnen.“

Ich drehte mich um. An der Wand hinter mir hing ein großer Jahreskalender von der IngDiba. Er war vollgekritzelt mit Namen, Pfeilen, ausgestrichenen Namen, Fragezeichen. Ich nickte.

„O.k. schön. Aber es wäre doch gut, wenn man das digital hätte. Falls man das mal versenden will.“

„Hat sich noch nie einer für interessiert.“

„Das ist jetzt anders“, erklärte ich. „Es gibt Prozesse, Konzernstandards, Zertifikate. Die Revision prüft, ob alles eingehalten wird.“

Frau Marek sah mich an.

„Sie werden staunen, wie userfreundlich die neue Software ist. Ich schicke Ihnen jemanden, der Sie schult. Das haben Sie im Nullkommanix drauf.“

„Die Dienstplanung machen wir mit Excel“, sagte Frau Marek. Sie öffnete eine Datei. „Sehen Sie?“ Widerwillig reckte ich den Hals, um den Bildschirm sehen zu können.

„Wir haben eine Besetzungszeit von acht bis 22 Uhr, da brauchen wir zwei Schichten je sieben Stunden. Es ist nicht direkt Quantenphysik. Eine einfache Excel-Tabelle reicht völlig.“

„Sie machen das toll“, sagte ich. Die Marek war ein schwerer Brocken. „Die Software hat eine Funktion, falls Mitarbeiter mal eine Schicht tauschen wollen.“

„Das haben wir auch.“ Frau Marek stand auf und führte mich wieder hinaus zu den Murmeltieren. Sie zeigte auf eine große Pinnwand. Da hingen sechs Zettel. Auf einem stand:

„He, ihr Lesben. Ich will am Freitag mit meinem Stecher ins Stadion, habe Spät. Wer kann einspringen? Tina“

Ich nickte wieder. Ich fotografierte die Pinnwand und den „Urlaubsplan“. Das würde sich gut machen als „Vorher/Nachher-Fotos“.

Ich schärfte Frau Marek ein, dass die Sache Top-Prio hatte. Sie nickte. Im Zug entwarf ich die Charts, mit denen ich meinen Erfolg präsentieren würde.

Am nächsten Tag erzählte ich meiner Kollegin Sabine von meinem Besuch in Döbeln.

„Scheint ja alles rund zu laufen“, sagte sie.

„Ja, sieht gut aus. Aber Kapersky habe ich wohl auf den Schlips getreten. Seit dem Team-Meeting hat er kein Wort mit mir gesprochen.“

„Du hast ihn auch ganz schön alt aussehen lassen. Er will der Chefin das Projekt ausreden, und du meldest dich und sagst, du machst es. Wen wird die Linde jetzt wohl lieber haben?“

Ich nahm mir vor, bald mit Kapersky zu reden. Er war seit Erfindung des Telefons in der Firma. Es gab Keinen im ganzen Konzern, mit dem er noch kein Bier getrunken hätte.

Zwei Wochen später, ich wollte ich gerade frühstücken, rief die Linde an.

„In mein Büro. Jetzt.“

Ich überlegte, ob ich den Kaffee mitnehmen sollte, entschied mich dagegen.

„Was haben Sie eigentlich in Döbeln verbrochen?“ fragte die Linde.

„Was meinen Sie?“

„Der Betriebsrat hat sämtliche Quasselstrippen-Dienstpläne abgelehnt, die mit EasyDispatch erstellt wurden. Wir hätten sie bei der Einführung der Software beteiligen sollen. Sie drohen mit einer verdammten einstweiligen Verfügung.“

„Das kriege ich in den Griff“, sagte ich. „Ich klemme mich sofort ans Telefon.“

Ich rief Carsten, den Rechtsverdreher, an. Er war auf Dienstreise und die Verbindung war schlecht. Ich schilderte ihm die Situation.

„Du musst mir sagen, wie wir den Betriebsrat wieder zur Räson bringen.“

„Gar nicht. Ihr müsst verhandeln.“

Für diese Schleife hatte ich keine Zeit. „Aber die Dienstpläne können wir doch schon einführen?“ 

„Nein!“ schallte es blechern aus dem Telefonhörer. „Ihr könnt … knack, rausch … nicht ohne … knack, knack...“

„Warum denn nicht? Der Vorstand will es. Was kann schon passieren? Wir entschuldigen uns, bauchpinseln sie ein bisschen…“

„Jessica! Ihr könnt ohne Zustimmung nicht umsetzen. Du riskierst …“

Die Verbindung brach ab. Mir war, als hätte er „Bußgeld“ gesagt, aber das konnte nicht sein, oder?

Ich rief Frau Marek an. Sie schien nicht beunruhigt zu sein. Sie habe dem Betriebsrat die neuen Dienstpläne vorgelegt, und er habe sie halt abgelehnt.

„Wieso mussten Sie die Pläne denn ausgerechnet dem Betriebsrat zeigen?“ fragte ich. Die waren doch immer gegen alles.

Ich wartete auf eine Antwort, aber es tutete, anscheinend war diese Verbindung auch abgebrochen. Ich rief noch verschiedene Kollegen an, die mir alle versicherten, dass der Betriebsrat hier die Oberhand hatte.

Ich zog die Schublade auf und angelte von ganz hinten eine Packung Zigaretten hervor. Ich hatte aufgehört zu rauchen, aber das war jetzt hinfällig. Was für eine Blamage. Kapersky würde triumphieren. Ich ließ mich in die Lehne fallen und schloss die Augen.

Das Telefon klingelte.

„Hier ist Petzke.“

„Äh, guten Tag?“ Ich hatte keine Ahnung, wer Petzke war.

„Du hast keine Ahnung, wer ich bin?“

„Nein.“

„Ich bin Betriebsratsvorsitzender im Callcenter Döbeln. Ich weiß nicht, hinter welchem Mond du lebst, aber das ist jetzt egal. Wir haben ein Problem.“

Petzke erklärte, dass die Anteilseigner von EasySoft die Firma an „den Franzosen“ verkaufen wollten.

„Der Franzose macht seinen Support in Polen. Ist billiger. Er wird als erstes den Laden in Döbeln zumachen. Du hast die Mädels gesehen. Sie verlieren alle ihren Job.

Pass auf: Du gehst heute Abend mit meinem alten Freund Kapersky ein Bier trinken. Nimm den Rechtsverdreher mit. Dann sehen wir, wie wir die Kuh hier vom Eis kriegen und nebenbei deinen Hintern retten.“

Es war leichter, als ich dachte, Kapersky zu einem Bier zu überreden. Petzke hatte ihn wohl schon angespitzt. Carsten war müde von seiner Dienstreise, kam dann aber doch in die „Kante“. Kapersky erklärte ihm, was Petzke mir erzählt hatte.

„Wenn der Franzose uns kauft, macht er den deutschen Overhead platt. Dann sind wir drei hier auch Geschichte“, sagte er.

„O.k.“, sagte Carsten. „Haben wir einen Plan?“

„Wir haben doch letztes Jahr NetPerfect diesen Riesenauftrag abgeluchst“, sagte Kapersky. Das hatte sogar im Wirtschaftsteil gestanden. Für die EasySoft war es der Markteinstieg in die IT-gestützte Anlagensteuerung gewesen. NetPerfect war daraufhin pleite gegangen.

„Damals haben wir auch ein paar Goldjungen von NetPerfect übernommen.“

Christian pfiff durch die Zähne. „Know-How-Träger!“

Ich verstand nur Bahnhof. Was das mit Petzke und Döbeln zu tun haben sollte, war mir ein Rätsel. Ein Dolmetscher für Wirtschaftschinesisch wäre jetzt gut gewesen.

„Heute haben zwei ehemalige Mitarbeiter von NetPerfect vorm Arbeitsgericht auf Übernahme durch EasySoft geklagt. Petzkes Gewerkschaft hat den Anwalt bezahlt“, sagte Kapersky.

„Sie machen einen Betriebsübergang auf EasySoft geltend?“ fragte Carsten.

„Bingo.“

„Weil wir die Spezialisten übernommen haben. Wenn die beiden Kläger Recht bekommen, haben 250 Leute Anspruch auf Übernahme durch EasySoft“, überlegte Carsten. „Das wird richtig teuer für EasySoft.“

„Und unattraktiv für den Franzosen.“ Kapersky lächelte zufrieden. „Die Braut, die er kaufen will, hat einen Buckel.“

„Aber bis das Gericht entscheidet, vergehen Monate“, sagte Carsten.

„Stimmt“, sagte Kapersky. „Aber jemand hier hat Kontakte zur Presse.“ Er sah mich an. „Wenn die Sache übermorgen im Wirtschaftsteil steht, machen die Franzosen einen Rückzieher.“

Ich nickte. Dafür konnte ich sorgen. „Und was wird aus meinem Projekt?“

„Petzke wird es durchwinken“, sagte Kapersky.

Als Carsten nach Hause gegangen war, sagte ich zu Kapersky: „Als ich mich für das Projekt gemeldet habe, wollte ich dir nicht in den Rücken fallen. Ich hatte es …“

 

„Ich weiß“, sagte Kapersky, „du hast es gut gemeint.“

 

 

 


 

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